Immer wieder stoße ich beim Lesen auf Romane, bei denen ich das Gefühl habe, dass der Autor das Setting lediglich nach der Optik ausgewählt hat – ähnlich wie eine schöne bunte Kulisse im Theater. Dabei kann Setting doch so viel mehr sein, wenn man es richtig macht.
Setting ist schließlich nicht nur der Ort, an dem die Handlung eines Romans spielt, sondern die Kombination aus Ort und Zeit/Epoche. Ein Roman, der im San Francisco von heute spielt, hat ein völlig anderes Setting als einer, der im San Francisco der 30er Jahre oder gar im San Francisco zur Zeit des großen kalifornischen Goldrausches rund um 1850 spielt.
Ein gutes Indiz für die Autorensünde „Setting als Kulisse“ ist, wenn Sie beim (oder spätestens nach dem) Lesen des Romans das Gefühl haben, dass die Handlung ebenso gut an mindestens einem Dutzend anderer, nicht einmal besonders ähnlicher Orte hätte spielen können.
Wenn also die in New York angesiedelte Handlung genauso gut in Wiesbaden oder in Prag spielen könnte, ist das ein ganz klarer Fall von „Setting als Kulisse“.
Als Autor sollte man seine Handlung nicht nur deshalb an einem fremden, exotischen Ort spielen lassen, weil dieser interessanter und internationaler wirkt als eine normale deutsche Kleinstadt, sondern man sollte das Potential des Settings wirklich ausnutzen.
Das Setting sollte eher wie ein weiterer Charakter die Handlung mit beeinflussen. Überlegen Sie, inwiefern sich das Setting Ihres Romans von Ihrer ganz normalen, persönlichen Alltagswelt unterscheidet:
- Welche Dinge, die Sie als alltäglich gewöhnt sind, wären dort nicht oder nur auf ganz andere Weise möglich?
- Welche Dinge gibt es in Ihrem Setting, die es besonders machen? Was gibt es nur dort oder was ist nur dort möglich?
- Wie könnten diese Unterschiede und Besonderheiten sich auf die Handlung Ihres Romans auswirken?
Beziehen Sie alle Aspekte Ihres Settings in diese Betrachtung mit ein: Klima und Wetter, Flora und Fauna, die Landschaft, typische Berufe und Tätigkeiten der Bewohner, Religion und Politik.
Überlegen Sie, wer in diesem Setting Macht und Einfluss besitzt und wie sich dies auf die Anwohner, Ihre Charaktere sowie die Konflikte und die Handlung Ihres Romans auswirkt.
Das gilt ebenso für Fantasy- und Science-Fiction-Autoren als auch für all jene Autoren, deren Romane in unserer „ganz normalen“, realen Welt spielen.
Wenn Sie also vorhaben, Ihren nächsten Thriller in London spielen zu lassen, sollten Sie sich natürlich sehr gut in dieser Stadt auskennen. Nichts ist peinlicher, als wenn jeder Leser, der schon mal seinen Urlaub dort verbracht hat, alle paar Seiten über Fehler stolpert, die ihn aus dem Lesefluß reißen und die ganze Handlung unglaubwürdig erscheinen lassen.
Setzen wir also mal voraus, dass Sie London wirklich wie Ihre Westentasche kennen – vielleicht von einem längeren Auslandsaufenthalt. Fragen Sie sich dann, was besonders an London ist. Denken Sie an Gebäude und andere mögliche Handlungsorte oder besondere Dinge, die man in London unternehmen könnte.
Ich kenne mich in London überhaupt nicht aus, aber mir fallen spontan der Tower und die Tower Bridge, das „London Eye“ (das größte Riesenrad Europas), Buckingham Palace, der Hyde Park, Westminster Abbey, der Trafalgar Square, Big Ben und natürlich „Tube“ ein, die Londoner U-Bahn, die nicht nur die älteste U-Bahn der Welt ist, sondern auch die längste von ganz Europa.
Erfahrungen vor Ort sind natürlich optimal, aber dank Google, Google Earth, Google Maps, Google Street View, Fotogalerien und YouTube-Videos kann man sich selbst vom heimischen Wohnzimmer aus so ziemlich jeden Ort der Welt sehr detailliert ansehen. Fast alles vom Bahnhof übers Museum bis zum Lokal hat seine eigene Homepage, über die man sich über Öffnungszeiten, Preise u.ä. informieren kann, damit einem hier keine ärgerlichen Flüchtigkeitsfehler unterlaufen.
Kombiniert man das mit ein paar Tagen Internet-Recherche und dem Lesen von Reiseberichten, kann man nicht nur seine vielleicht mittlerweile etwas verblassten und lückenhaften Erinnerungen wieder auffrischen, sondern sogar Orte kennen lernen, an denen man selbst noch niemals war.
Informieren Sie sich dabei auch über die Vergangenheit Ihres Settings, besonders über mysteriöse und vielleicht bis heute ungeklärte Ereignisse der Vergangenheit. Kombinieren Sie all Ihre Notizen miteinander, um auf spannende Szenen zu kommen, die wirklich nur dort spielen können und Ihre Leser tief in die Handlung hinein ziehen.
Der andere Ansatz ist, dass Sie Ihr Setting danach aussuchen, dass es optimal zu Ihrer bereits angedachten Handlung passt. Wenn Ihr Protagonist sich allein und ohne Unterstützung einer Handvoll schwerbewaffneter Terroristen stellen muss, fragt sich jeder klar denkende Leser, warum der Protagonist sich nicht einfach in Sicherheit bringt oder mit seinem Handy die Polizei zur Hilfe ruft.
Damit eine solche Handlung glaubwürdig wirkt, müssen Sie Ihrem Protagonisten alle einfachen Wege verbauen. Und dafür ist das passende Setting das beste Mittel: Wenn Ihr Protagonist beispielsweise ein Leuchtturmwächter auf einer einsamen Insel ein paar Meilen vor der Küste ist und draußen auf See ein wahrer Jahrhundert-Sturm tobt, kann er nicht einfach von der Insel fliehen und auch die Polizei wird weder mit Booten noch mit Hubschraubern rechtzeitig zur Hilfe kommen können. Was natürlich die Frage aufwirft, was die Terroristen ausgerechnet auf dieser kleinen Insel suchen. Haben sie vielleicht die Flugroute der Airforce One in Erfahrung gebracht und wollen diese von der Insel aus mit einer Boden-Luft-Rakete abschießen?
Allein solche Fragen bringen das kreative Räderwerk im Kopf schon wieder zum Rattern. Wo könnte sich der Protagonist vor seinen Feinden verbergen? Gibt es vielleicht Höhlen in der Steilküste der Insel, die nur einen Zugang von der Seeseite haben? Und was könnte er dort entdecken? Haben vielleicht Schmuggler diese Höhle früher genutzt und dort etwas zurückgelassen, das dem Protagonisten heute helfen kann?
Das alles sind Fragen, die sich nur aus dem Setting des Romans herleiten und die, wenn man es richtig macht, Handlung und Setting zu einer untrennbaren Einheit miteinander verbinden. Nehmen Sie sich die Zeit dafür. Glauben Sie mir: es lohnt sich.
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